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«Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen»
Die SSBL Stiftung für selbstbestimmtes und begleitetes Leben ist mit ihrem Angebot «z’mitts drin» und nicht nur dabei. Im Interview gibt Geschäftsführer Pius Bernet Einblick in die dynamische Welt von Menschen mit Beeinträchtigung.
ROI Online: Herr Bernet, im Jahr 2021 feierte die SSBL ihr 50-jähriges Bestehen. Welche Werte haben sich über diese lange Zeit bewährt und sind immer noch treffend, wenn man von ihnen spricht?
Pius Bernet: Die SSBL wurde durch Eigeninitiative und Engagement von Mitarbeitenden und Angehörigen gegründet mit dem Ziel Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft teilhaben zu lassen und ihnen die grösstmögliche Lebensqualität zu ermöglichen. Diese Werte, Eigeninitiative und Engagement für ein möglichst selbstbestimmtes Leben, sind seit der Gründung der Organisation tief verankert und werden es auch immer bleiben – es ist die DNA des SSBL.
Wie umfassend ist das Angebot der SSBL?
Wir begleiten im Auftrag des Kantons Luzern rund 380 Menschen mit kognitiver und mehrfacher Behinderung ab dem 18. Altersjahr, je nach Bedarf rund um die Uhr. Davon wohnen rund 75 nicht in einer der Wohnhäuser der SSBL, sondern zu Hause oder in einer anderen Institution und kommen in die SSBL als «Tagesbeschäftigte» zum Arbeiten. Im Kinderhaus Weidmatt betreuen wir Kinder mit Behinderungen im Säuglingsalter bis 6 Jahre. Bei den Erwachsenen haben wir je nach Unterstützungsbedarfseinstufung unterschiedlichen Wohn- und Arbeits- respektive strukturierte Tagesbeschäftigungsangebote. Nebst den bestehenden Angeboten Wohnen in Vielfalt, Wohnen mit Pflege, Wohnen mit Struktur, Arbeiten in Ateliers, Arbeiten im Betrieb Triva, entwickeln wir ab 2023 weitere spezifische Wohn- und Arbeitsangebote.
Wie hat sich, ihrer Ansicht nach, der Blick der Gesellschaft auf Menschen mit Beeinträchtigung verändert?
Ich sehe grosse Fortschritte in den letzten 20 Jahren, wie sich unsere Zivilgesellschaft stetig bemüht, Menschen mit Behinderungen im gesellschaftlichen Leben einzubinden. Die Rahmenbedingungen werden immer besser. Natürlich gibt es immer noch Luft nach oben, wie der UN-BRK-Länderbericht Schweiz aufzeigt. Insbesondere spüre ich eine grosse Wertschätzung von Besucherinnen und Besucher, wenn wir ihnen in filmgestützten «Führung durch den Alltag der SSBL» aufzeigen, wie wir die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der von uns begleiteten Menschen abdecken.
Stichwort Inklusion – ein vielgewälzter Begriff im sozialen Raum. Was bedeutet dieser für die SSBL und für sie ganz persönlich?
Das Wort Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch ganz natürlich dazu gehört. Oder anders: Inklusion ist, wenn alle mitmachen dürfen. Egal wie du aussiehst, welche Sprache du sprichst oder ob du eine Behinderung hast. Für die SSBL bedeutet Inklusion, dass wir unseren Klienten nicht nur einen Raum der persönlichen Entfaltung bieten, sondern ihnen auch die Möglichkeit geben, trotz respektive wegen den teils hohen kognitiven und mehrfachen Behinderungen Teil vom gesellschaftlichen Alltag und von der Arbeitswelt zu sein.
Ihr Auftritt kommt mit dem Slogan «z’mitts drin». Was hat dieser auf sich?
Damit Inklusion gelingt, dürfen wir die von uns betreuten Menschen nicht absondern. Wir wollen unsere Angebote in den Dörfern und Quartieren, also, wenn möglich, im gleichen Sozialraum der betroffenen Familien anbieten. «Z’mitts drin» hat nicht nur eine räumliche Bedeutung, sondern auf allen Ebenen: Mitten im Leben, beim Einkaufen, bei einer Freizeitbeschäftigung, bei begleitetem Arbeiten in Betrieben. Für unsere Mitarbeitenden bedeutet dies auch «miteinander – füreinander», also mitten in einem motivierten Team zu arbeiten.
Mitte dieses Jahres hat die SSBL die Strategie 2030 veröffentlicht, welche ab 2023 umgesetzt werden soll. Welche Wandlungen sind ihnen dabei besonders wichtig?
Für die Umsetzung der formulierten Mission «Wir ermöglichen Menschen mit Behinderung Teilhabe in der Gesellschaft und fordern ihre Wahlfreiheit und Selbstbestimmung durch vielseitige und flexible Angebote in allen Lebensbereichen» braucht es Engagement, Mut und Flexibilität von allen Mitarbeitenden auf allen Hierarchiestufen, neue Betreuungs- und Begleitungsangebote unter Einbezug der sozialpädagogischen und technologischen Entwicklungen anzubieten. Wichtig ist uns dabei, die von uns begleiteten Menschen einzubeziehen. Als Beispiel kann die jährliche Fragestellung über die Zufriedenheit den Wohnsituation sein. Kürzlich haben zwei Bewohner den Wunsch geäussert, in eine andere Wohngruppe resp. Wohnhaus zu wechseln. Solchen Wünschen kommen wir gerne nach, bald auch ausserhalb von unseren Wohnhäusern
Mit der Strategie 2030 kommt auch eine Namesanpassung der Stiftung. Wieso ist man diesen Schritt gegangen?
Schon seit Langem bestand die Forderung seitens der Angehörigen- und Fachorganisations-Vertretungen im Stiftungsrat, den im heutigen Sprachverständnis stigmatisierenden Namen zu ändern. Es bestand Einigkeit, dass zuerst die Strategie, basierend auf dem neuen Leitbild des Kantons, entwickelt werden soll und dann am Schluss die Namensgebung angegangen werden kann. Mit Rücksicht auf unsere Bewohnerinnen und Bewohner und unsere Mitarbeitenden wurden die Weichen so gestellt, dass die identifikationsstiftenden Merkmale des Namens, nämlich die Abkürzung und das Logo, beibehalten werden sollen. Für den Namen wurden, unter Einbezug diversen Stakeholder, Ideen gesammelt und demokratisch über die Möglichkeiten abgestimmt. Nun sind wir sofort die «SSBL Stiftung für selbstbestimmtes und begleitetes Leben» und verabschieden uns von «Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL».
Die SSBL ist einem Digitalisierungsprozess unterworfen. Welche konkreten Anpassungen möchte man in den kommenden Jahren vornehmen?
Damit wir effizient und flexibel die Leistungen erbringen können, brauchen wir unsere jungen, digital-affinen Mitarbeitenden auch die richtigen Tools. Darum sind wir mitten in der Digitalisierung unsere Prozesse. Ziele sind etwa ein digitales Klientendossier, eine digitale HR-Plattform für sämtliche interne Ausbildungen und Weiterbildungen und ein digitales HR-Dossier für jeden Mitarbeitenden, etwa für mobile und digitale Spesenerfassung, Zeiterfassung oder Umdisponierungen der Einsatzplanungen. Auch die interne Kommunikation und das Qualitätsmanagement wird digitalisiert werden und ortsunabhängig zugänglich sein. Für die Klienten arbeiten wir daran, dass wir deren Kompetenz, mit digitalen Medien umzugehen, laufend verbessern können.
Was erhoffen Sie sich für die SSBL in der nahen Zukunft?
Ich bin überzeugt, dass wir mit unseren hervorragend motivierten Mitarbeitenden die avisierten Verbesserungen in Wahlfreiheit und Selbstbestimmung zugunsten der von uns begleiteten Menschen schrittweise umsetzen können und dass wir dank den Pionierleistungen für Fachkräfte attraktiv bleiben. (red.)